Bericht Paraguay 2011


Chaco 2011: Der Bericht

In Asuncion bereiten wir unseren diesjährigen Chacoeinsatz vor. Es herrschen hier im Sommer Temperaturen bis zu 35°C. Doch der eigentliche Killer ist die hohe Luftfeuchtigkeit. Zum Glück gibt es ab und an einen Schauer, und die Temperatur kühlt sich für einige, wenige Stunden ab. Wir treffen uns mit Sady und ihrer Zahntechnikerin Mabel, um unser gemeinsames Vorhaben zu besprechen. Denn dieses Mal gilt es, eine besondere Herausforderung anzunehmen! Durch die großzügige Spende von Herrn Zahntechnikermeister Vollmer sind wir dieses Jahr in der Lage, erstmalig neben der zahnärztlichen Behandlung auch Zahnersatz herstellen zu lassen. Das soll Mabel machen. Sie hat ein kleines zahntechnisches Labor in San Lorenzo, einem Vorort Asuncions. Überhaupt sind wir gespannt, wie es dieses Jahr laufen wird, da Pater (Paì) Miguel, die paraguayische Seele unseres zahnärztlichen Projekts nach Rom versetzt wurde. Wer wird seine Position überhaupt einnehmen können? Dann bittet uns auch noch Schwester (Hermana) Romy, die Gesundheitskoordinatorin auf Seiten der Nonnen zum Gespräch. Wir rechnen schon damit, dass uns - besser - dem Projekt, quasi der Stuhl vor die Tür gesetzt wird, da Paì Miguel nicht mehr da ist und das Projekt wohl auch nicht nur Befürworter hatte. Doch als wir uns auf dem Stammhaus des Schwesternordens in Asuncion treffen, wo Romy, die tief im Busch auf der Mission Fischat stationiert ist, einige Tage weilt, ist es sehr harmonisch unter alten Freunden. Sie wollte uns einfach nur einmal wieder sehen und ist richtig neidisch, dass wir zum Herstellen von Prothesen nicht auch zu „ihren“ Indigenas (Indios) kommen. Das ist technisch aber gar nicht möglich, da wir selbst bei Herstellung einfachster Kunststoffprothesen den Kontakt zum Zahnlabor brauchen. Im ganzen Chaco (so groß wie die alte BRD) gibt es kein solches Labor. Das bedeutet, dass wir nach Abdrucknahme und Erstellen der Modelle nach Asuncion zurück müssen, wo der Zahnersatz dann angefertigt wird, um danach wieder zur Mission zurück zu kehren. Das ganze Procedere erfordert die Anbindung an wetterfeste Asphaltstrassen. Davon gibt es aber nur eine im Chaco: Die 530 Km lange Stichstraße „Ruta Trans-Chaco“ zum Örtchen Mariscal Estigarribia (ME). Somit bleibt für uns nur die Mission Santa Teresita, wenige Km vor Mariscal. Endlich soll es losgehen, und wir fahren zum Busterminal. Dort treffen wir zu unserer Überraschung Paì Anuncio, den wir von der Mission Fischat kennen. Wir werden gemeinsam die 8 bis 9 Stunden bis ME im Bus absitzen. Mit Verspätung kommt schließlich eine ziemliche Klamotte von Bus an. Mechaniker schräubeln sogleich hektisch am Motor herum. Doch, kaum losgefahren, entlässt der Bus schon nach den ersten 100m literweise sein pechschwarzes Motoröl auf die Straße. Paraguay wäre nicht Paraguay, wenn solches irgendjemanden aus der Ruhe bringen würde. In der Tat: Nach einer Stunde taucht ein ölverschmierter Techniker aus dem Motorraum auf und gibt grünes Licht zur Weiterfahrt. Zur Sicherheit fährt gleich noch ein Mechaniker die ganze Strecke nach ME mit. So erreichen wir verspätet gegen 23:00 Uhr Mariscall. Der Bus setzt uns an der Tankstelle am Ortseingang ab, wo bereits Hermana Ramona, eine Paraguayerin von ca. 45 Jahren, auf uns wartet. Aus dem Dunkeln kommt Schwester Maria-Angeles, so zu sagen unsere - mittlerweile 70jährige - Adoptivmutter im Chaco, die sich schon 2005 rührend um uns gekümmert hatte. Es gibt ein riesiges, freudiges „Hallo“. Die beiden holen uns wegen unseres Gepäcks mit einem uralten „Buschtaxi“ ab*. Aus mir noch unbekannten Gründen kann offensichtlich nur Angeles das alte Ungetüm fahren. So schaukeln wir auf Staubwegen die 200m zum Haus der Hermanas, wo wir während des Projekts wohnen werden.

Am nächsten Tag wollen wir unser Consultorio, das „Sprechzimmer“ einrichten in Santa Teresita, ca. 2 Km vor den Toren Mariscals. Da Angeles meine Vorliebe für Geländewagen kennt, soll ich das Ungetüm von gestern steuern. So bekomme ich zu spüren, warum niemand den Methusalem fahren will. Ca. 30 Jahre alt, vom paraguayischen Militär ausgemustert (das will schon etwas heißen) ist es ein fahrender Schrotthaufen. Es geht weder Allrad noch Untersetzung, nur die ersten drei Gänge funktionieren, aus dem dritten Gang, einmal eingelegt, kommt man nicht mehr heraus, es sei denn im Stand. Ohne Lenk- und Bremshilfe fährt sich der Wagen wie eine Mischung aus Trecker und Rüttelplatte. Willkommen im Chaco!

Karin und ich haben uns oft gefragt, was den Chaco eigentlich zu UNSEREM CHACO macht. Es ist zum einen diese Einfachheit, die häufig die Grenze zur Primitivität überschreitet. So wird hier Wäsche noch mit der Hand gewaschen. Vieles ist von Anno-Tobak, wie die Möbel im Schwesternhaus, die mit ihren hölzernen Schrankschließen aus den 40er Jahren zu stammen scheinen. Der Chaco, das Haus: Alles atmet Pioniergeist. Ständig wird improvisiert. Dennoch funktioniert es dann irgendwie …. oder vielleicht auch nicht, und niemand regt sich auf.

Also rumpeln wir mit Fast-Schallgeschwindigkeit (50Km/h) nach St. Teresita. Es ist noch alles wie vor 6 Jahren. Wir sichten erst einmal die Geräte, Instrumente und Materialien. Immerhin scheinen keine weiteren Teile “verdunstet“ zu sein wie in den Jahren zuvor. Maria-Angeles hatte alles gut weg gesperrt. Den ganzen Tag über machen wir sauber und richten uns auf 9 m² ein in einem Nebenraum des Gesundheitspostens. Leider gibt es kein fließend Wasser: Die Pumpe des Tiefbrunnens ist defekt und zur Reparatur nach Asuncion. Man wird die Pumpe während der nächsten 8 Tage noch zweimal als Reklamation die 530Km nach Asuncion zurück schicken, bis sie dann endlich störungsfrei läuft.

Am nächsten Tag geht es dann richtig los. Angeles hat kräftig die Werbetrommel für Prothesen gerührt. Dementsprechend ist der Andrang. Ein älterer Patient erinnert sich noch, dass vor einigen Jahren ein deutsches Zahnärztepaar hier in St. Teresita war und ihm einige Zähne gezogen hat. Ich glaube, wir müssen noch die Kollegen vom Brillen-Projekt vorbeischicken. Zunächst nehmen wir nur die Befunde auf, entscheiden, ob überhaupt eine Versorgung mit Prothesen möglich ist. Denn der Gebissstatus ist meist desolat. Da die Patienten häufig jahrelang mit ihrem Restzahnbeständen irgendwie gekaut haben, stehen die Zähne entweder kreuz und quer wie ein Jägerzaun, oder die untere Zahnreihe greift wie ein Reißverschluss in die obere. Eine prothetische Versorgung ginge nur nach vorherigen multiplen Extraktionen. Dann teilen wir die Patienten zur Vorbehandlung mit Extraktionen und Füllungen ein. Einige verstehen das wohl nicht und kommen nicht wieder. Vielleicht glauben sie, dass wir die Prothese mal eben aus der Schublade ziehen. Außerdem ist ja alles gratis, da braucht man sich wohl nicht so zu engagieren. Nach 3 Tagen bricht unser Bestellsystem zusammen. Nach 5 Tagen nehmen wir keine neuen Patienten mehr an. Wir werden uns aus finanziellen und zeitlichen Gründen auf max. 30 Prothesen beschränken müssen. Den zeitlichen Aufwand haben wir btotal unterschätzt. Die Wellen scheinen über unseren Köpfen zusammen zu schlagen. Dazu die Hitze, die zwar trockener ist als in Asuncion, aber ca. 5°C heißer. Wenn nachts einmal das Thermometer auf unter 30°C fällt, sprechen wir von Frische. Wir schlafen herrlich bei offenem Fenster – natürlich mit Mückengitter-, das Blechdach knackt romantisch, und nebenan „zersägt“ Schwester Flor den halben Chaco. In den ersten Tagen sitzen die Patienten bei der Untersuchung und bei Extraktionen auf einem einfachen Küchenstuhl. Für die Füllungstherapie brauchen wir aber unbedingt eine Kopfstütze. Seinerzeit in der Mission Pedro P. Penia hatten wir einen mit einer Art Plastikwäscheleine bespannten Terrassenstuhl aus Eisenrohr mit hoher Rückenlehne. So etwas suchen wir in Mariscal vergebens. Mariscal ist zwar die Department-Hauptstadt mit ca. 2000 Einwohnern, aber eher ein Dorf mit kleinen Hütten und Häuseln, mit einem festen 2-stöckigen Rathaus, einem kleinen Hospital und einer heute fast verwaisten Garnison.

So in Dritte-Welt-Ländern wegen seiner Zuverläßlichkeit genannt: Toyota Landcruiser J7

Als dann neben dem fließenden Wasser auch noch der Strom ausfällt, schnappen wir uns den freundlicherweise vom Bischoff zugeteilten Buschtaxi-Pick-up und fahren kurzerhand die 90Km nach Filadelfia, der eigentlichen Hauptstadt (eher Hauptdorf) des Chaco. Filadelfia ist zwar auch ein Kaff ( Zentrum der deutschen Mennonitenkolonien), aber immerhin gibt es eine Vielzahl von kleinen Geschäften und einen einfachen Supermarkt wie aus den 60iger Jahren bei uns auf dem Lande. Dort bekommen wir genau DEN Stuhl. Nur bricht es mir nach einem Tag fast das Kreuz, weil er viel zu niedrig ist. Daraufhin bringe ich den Stuhl in die kircheneigene Werkstatt. Dort glüht mein Fotoapparat! Es sieht hier aus wie zu Zeiten der frühindustrieellen Revolution: Tonnen schwere, massive Eisenmaschinen, riesige Schwungräder und flatternde Laufbänder! Und mittendrin die „Maschinisten“. Aus altem Wasserrohr werden flugs Verlängerungen zusammengebastelt und mit den Stuhlbeinen versplintet, dazu „Schühchen“ aus Karton, damit der Boden nicht zerkratzt. Irgendwie sieht das alles etwas komisch aus, aber es funktioniert. Willkommen im Chaco!

Endlich können wir richtig loslegen. Die Indios lassen die Abdrucknahmen erstaunlich ruhig über sich ergehen ohne Würgen und Spucken. Vor Ort in unserem Mini-Consultorio erstelle ich gleich die Modelle, ohne Sockelhilfe, ohne Trimmer, ohne fließend Wasser, nur mit einem Gipsmesser „bewaffnet“. In der „Spätschicht“ artikuliere und verschlüssele ich die Modelle mit Gips für den Transport nach Asuncion. Z.T. stelle ich Bissschablonen mit der Basis aus Prothesenkunststoff her, da ich nichts anderes zur Verfügung habe.

In unserer Freizeit fahren wir mit „unserem“ Auto, mal ist es der Methusalem, mal das Buschtaxi- Pick-up oder die Ambulancia zum Shopping nach Mariscall und kaufen Kekse und Margarine. Dann treffen wir noch auf 2 deutsche Globetrotter mit ihrem geländegängigen Wohnmobil, werden eingeladen bei einem jungen koreanischen Entwicklungshelfer, der für 2 Jahre allein im Gästehaus der Schule wohnt, wo er als Lehrer arbeitet (Einzelhaft so zu sagen) und wir gehen mit den Schwestern am Sonntag in das einzige Lokal/Eisdiele, wo das Eis nur süß schmeckt, aber in unterschiedlichen Farben. Nach 14 Tagen in Mariscal können wir 25 Paar Modelle für 24 Teilprothesen und 4 Erweiterungen in einen Karton einpacken.

Der Bus nach Asuncion ist noch fast neu, vielleicht 10 Jahre alt. Meist sind es abgelegte Busse aus Brasilien. Er hat Halbliegesitzen und Video. Leider foltert man uns während der 8-stündigen Fahrt mit 4 Jean-Claude-van-Damme-Karate-Kid-Filmen der billigsten Kategorie. Bei unserer Ankunft auf dem Terminal von Asuncion erwartet uns schon die Technikerin Mabel, um den Karton mit den Modellen entgegen zu nehmen. Die Luft ist warm und sehr schwül. Wir verbringen eine sehr unruhige erste Nacht. Vom Chaco sind wir das offene Fenster und frische, unbelastete Nachtluft gewohnt, hier ärgern wir uns wahlweise über die Klimaanlage oder die stickige Luft.

Am nächsten Tag besuchen wir Mabel in ihrem Dentallabor und fallen fast um. Auf 12m² befindet sich in einer Ecke das Kleinstlabor, die andere Ecke ist die Wohnung. Zwei hochgestellte Matratzen sind offensichtlich das Schlafzimmer, neben der Sopa Parguaya werden demnächst unsere Prothesen köcheln, ein Regal dient als Kleiderschrank. Willkommen in Paraguay! Hier wohnt Mabel mit ihrem Mann, der angeblich Zahnmedizin studiert. Ein Jahr fehlt wohl noch zum Examen (welchem?), er arbeitet aber schon mal und zeigt mir stolz die Arbeitsmodelle „seiner“ Zahnersatzpatienten: Eine Teilprothese (Kunststoff) ohne Klammern auf belassenen Wurzelresten, eine Frontzahngruppe verblockter Kunststoffkronen auf unartikulierten Teilmodellen zum Zusammenhalten und eine hausgemachte VMK-Krone mit unidentifizierbarem „Irgendwie-Kaurelief“. Und dann ist da noch ein ganzer Tisch mit ordentlichen Technikkästchen und unseren Modellen. Mabel sucht gerade die Zähne für die Prothesen zusammen. Kein einfaches Unterfangen, da fast alle nur 2 Zahnfarben erfordern. Vermutlich hat sie sich in ganz San Lorenzo von den dortigen Zahnlabors Zähne ausgeliehen. Ich glaube, sie hat noch nie 25 Prothesen auf einen Schlag gesehen. Na, hoffentlich geht das gut! Die neuen Prothesen werden mit Heißkunststoff hergestellt, die Erweiterungen in Autopolymerisat ausgeführt. Es sind noch 4 Tage inklusive Wochenende. Dann soll alles fertig sein!

In Asuncion gibt es jeden Tag einen ausgiebigen Schauer, einmal schüttet es so heftig, dass das Wasser zur Tür herein läuft. Die Straßen stehen unter Wasser, Gullydeckel werden hoch gedrückt. Hoffentlich ist es im Chaco trocken!

Ständig sind wir mit Mabel telefonisch in Kontakt. Die Zeit wird immer knapper. Zum Glück haben wir die Busfahrkarten mit ½ Tag Reserve erst für mittags gekauft. Das ist dann auch ein weiser Entschluss. Der Karton mit den fertigen Prothesen wird uns nämlich passend zur Abfahrt an den Bus gebracht!

Der südliche Chaco steht praktisch unter Wasser. Jede Senke ist gefüllt. Gen Norden wird es trockener. Als wir gegen halb elf in der Nacht in ME ankommen, ist es dort fast trocken. Ein herrlicher warmer, trockener Wind schlägt uns entgegen, als uns Maria-Angeles abholt. Natürlich müssen wir erst einmal von Asuncion und dem Werdegang unserer Prothesen berichten. Neugierig öffne ich nun auch unseren Zahnersatz-Karton. In lauter kleinen Papiertütchen sind unsere Prothesen ordentlich verpackt. Eine mache ich auf. Mein Hals schwillt rot an. So etwas hätte ich in Deutschland nie akzeptiert! Die Prothese ist schlecht ausgearbeitet und ebenso mangelhaft poliert! Na, das kann ja morgen lustig werden. Hoffentlich werden wir kein Waterloo erleben!

Angespannt erwarten wir am nächsten Morgen in unserem, schon fast zur zweiten Heimat gewordenen Consultorio die erste Zahnersatzpatientin. Der Patientin klopft das Herz sicherlich genau so wie uns. Und siehe da: Der Zahnersatz lässt sich nach kurzem Einpassen problemlos einsetzen! Das Erfolgserlebnis setzt sich den ganzen Tag fort. Nicht nur für uns. Auch die - vornehmlich weiblichen – Patienten sind happy. (Die Männer sind insgesamt ca. 1:8 in der Minderheit!) Wir machen Fotos jeweils vorher ohne Zähne und dann mit den Dritten. Welch ein Unterschied! Manchmal liegen 10 Jahre zwischen den Fotos! Wir schrauben einfach unsere Ansprüche an die Arbeit zurück, die Patienten kennen es ohnehin nicht anders, und schon sind alle glücklich! Der Fairness halber sei gesagt, dass uns später nach unserer Rückkehr nach Asuncion die Technikerin Mabel anruft, um sich nach unserer Zufriedenheit zu erkundigen. Dabei entschuldigt sie sich sogleich, da sie aus Zeitmangel zum Schluss nicht mehr alle Arbeiten entsprechend habe ausarbeiten und polieren können. Nun, wir akzeptieren das so. Es war halt zum Schluss alles mit heißer Nadel gestrickt. Nach und nach setzen wir alle Arbeiten ein. Sicherlich, ich muss immer etwas nacharbeiten, aber wir haben nicht einen Totalverlust dabei. Fast alle Arbeiten sind auch kosmetisch sehr schön. Die glücklichen Gesichter der Patienten entschädigen uns für unseren Schweiß und den schmerzenden Rücken, aber auch die Zweifel, die wir dieses Mal während des Projekts haben. Manche Patienten bedanken sich überschwänglich, andere stehen, ohne ein Wort zu sagen, mit freundlichem Lächeln auf und gehen. Das ist zum Teil ethnisch bedingt. Im ersten Jahr unseres Projekts war uns das schon aufgefallen. Wir hatten uns gegenüber Paì Miguel deswegen erstaunt gezeigt und gefragt, was in der Sprache der Nivaclè denn „danke“ hieße. Nach kurzem Überlegen hatte er entgegnet, dass es dieses Wort in nivaclè gar nicht gäbe. „Tacu chlei!“, „Es ist gut!“ sei schon das Höchste der Gefühle. Die Nivaclè sind ganz liebe, zurückhaltende, eher schüchterne Menschen. Sie machen, was sie wollen und lassen sich nicht unter Druck setzen. Ebenso wenig sind sie aber durchsetzungsfähig gegenüber anderen. So sind wir froh, dass von unseren 25 Prothesenpatienten wenigstens 3 vom Stamm der Nivaclè sind. Die anderen sind aus dem Stamm der Guarayos oder Guarani Njandeva, beides Stämme, die ,wie Paì Miguel zu sagen pflegt, eher aus dem Wald gekommen waren und dementsprechend angepasster sind, was auch die Ellenbogenkultur einschließt.

Unsere letzten Tage im Projekt klingen langsam aus. Die Indigenas bereiten sich schon auf „ihren“ Karneval vor und haben wohl keine große Lust mehr, zum Zahnarzt zu gehen. Außerdem gibt es ja keine Prothesen mehr.

Fast jede Nacht regnet es nun, manchmal ist es nur ein Schauer. Es hat sich abgekühlt. Tags sind es knapp 30°C. Einmal ist es nachts sogar 21°C kalt. Wir haben ein La-Ninja-Jahr. Schon lange hat es im Chaco nicht mehr so viel geregnet. Dann entlädt sich über Nacht ein Unwetter. Am Morgen danach versinkt Mariscall Estigarribia im Schlamm. Es gibt ja nur die eine asphaltierte Hauptstraße, und die verläuft zumeist auf einem Damm. Wenn du dann 200m vom Asphalt entfernt wohnst, könntest du auch auf dem Mond wohnen: So unerreichbar ist der sichere Asphalt. Es sei denn, du fährst ein Sechs-Zylinder-Buschtaxi mit grobstolligen Geländereifen und Allrad. Wenn die Differenzialsperren greifen, die Räder sich durch den Schlamm mahlen, das Auto eine chaco-braune Farbe annimmt, dann lacht das Männerherz! Willkommen im Chaco!!

Der Rest ist schnell erzählt. Wir „motten“ unsere Gerätschaften für den nachfolgenden Kollegen im Projekt ein, fertigen eine Inventarliste an und stiften den Kindern der Missionsschule noch einen Lederfußball. Dann ist Koffer packen angesagt. Anderntags verabschieden uns die Hermanas, der Bischoff und Paì Anuncio sehr herzlich, nicht ohne sich noch einmal ausdrücklich für unseren Einsatz, aber auch das Engagement unseres Sponsors, Herrn Vollmer, zu bedanken. Nach 530km Busfahrt erreichen wir in der Nacht Asuncion, wo das Leben pulsiert. Wir vermissen die Ruhe des Chaco, dieses liebenswürdigen, großen Sanatoriums am Ende der Welt.

Karin und ich haben lange die Frage diskutiert, ob diese Herausforderung, dieses neue Experiment mit dem Zahnersatz erfolgreich und sinnvoll war. Es war keine Arbeit à la: Morgens später anfangen, damit man früher nachmittags aufhören kann, apres Praxis mit den amerikanischen Kollegen plaudernd auf der Veranda ein Glas Whisky trinken…und draußen ruft der Tucan! Nein, es war Knochenarbeit mit wunderbaren Momenten! Aber: Bei ca. 30 „Exklusivpatienten“ (nebenbei haben wir noch ca. 70 Füllungen gelegt und 75 Zähne gezogen) haben wir viele weitere Patienten mit notwendigen Füllungen nicht behandeln können: Die Prothetikpatienten von „morgen“! Auch auf die entfernten Dörfer konnten wir nicht mehr fahren. Wir haben bei der Pyramide der Notwendigkeiten oben angefangen, nicht an der Basis. Andererseits haben wir die glücklichen Zahnersatz-Patienten vor Augen, was unsere Selbstzweifel besänftigt. Insofern haben wir nichts Falsches getan. Es bleibt noch viel zu tun. Wir sind noch lange Willkommen im Chaco!