Bericht Haiti 2012


Bericht über einen zahnmedizinischen Einsatz in Port Salut (Haiti) in den Weihnachtsferien 2012 mit dentists and friends

Haiti - von der Perle der Karibik zum Armenhaus Amerikas


Nachdem die indianische Urbevölkerung Haitis 1492 Kolumbus, in dessen Bordbuch die Insel als „der lieblichste Ort der Welt“ bezeichnet wird, gastfreundlich empfangen hatte, dauerte es nur wenige Jahrzehnte, bis sie vollständig ausgerottet war. Seither war die Geschichte des Landes mit Blut getränkt, ein wahrhaft roter Faden aus Kolonialismus, Massakern, Militärputschen, Okkupation, Diktatur und Naturkatastrophen. Haiti war eines der fruchtbarsten Länder, bis es zum exzessiven kolonialistischen Raubbau an seinen natürlichen Ressourcen kam. Frankreich hat aus seiner Kolonie mehr Ertrag herausgepresst als jede andere Kolonie weltweit produzierte.

Haiti ist die zweitälteste Republik Amerikas. Danach aber wurde es von Frankreich, aber auch von Deutschland, zu Reparationszahlungen erpresst, die das Land bis in das 20. Jahrhundert hinein in die Knie zwangen.

Heute ist Haiti das Land mit der niedrigsten Lebenserwartung und höchsten Säuglingssterblichkeit, mit 60% Analphabeten und einer ebenso hohen Arbeitslosigkeit.

Nach dem schweren Erdbeben von 2010 mit mehreren hunderttausend Toten hatte die Welt die Hoffnung, dass es zu einem Neuanfang kommen könne. Die Spendenbereitschaft schien groß genug.

Dass diese Hoffnung vollkommen unbegründet war, diesen Eindruck haben wir auf unserer unendlich deprimierenden Fahrt vom Flughafen durch die Hauptstadt gewonnen. Port au Prince ist ein Moloch aus Müll und Staub, Abgasen und Dioxinwolken von schwelenden Plastikmüllbergen, in denen Menschen noch nach Brauchbarem stochern. Sicher haben wir nur einen Teil der Stadt gesehen, aber dort jedenfalls keine Neubauten. Die Trümmer sind weitgehend weggeräumt, aber auf den freien Flächen sahen wir nur armseligste Zeltansammlungen und Müllhalden.

An unserem Einsatzort in Port Salut, an der Südküste, sind die Verhältnisse viel moderater. Hier sieht man neben den Lehmhütten immer wieder Rohbauten größerer Steinhäuser. Leider gibt es auch hier keine Müllabfuhr, so dass die Menschen nur die Wahl haben, zwischen Verbrennen unter Dioxinbildung und Entsorgung ins Meer.

Sobald es hell wird, sieht man die Frauen fegen, Wäsche waschen oder Wasser holen. Sie tragen unsere „Altkleider“, die – auf welch „humanitären“ Wegen auch immer - auf den haitianischen Märkten landen, mit einer solchen Grazie, dass ein europäisches Topmodel in Designerklamotten ( auch ohne Wassereimer auf dem Kopf) dagegen recht unbeholfen wirkt.

Die Menschen hier sind trotz aller Widrigkeiten lebensfroh, ausgesprochen geduldig und ruhig, was besonders bei den Kindern auffällt. Sie leben in großen Familien und engen Hütten, aber wir haben kaum je ein lautes Wort, geschweige denn einen Streit gehört. ADHS ist jedenfalls kein haitianisches Problem.

Wir (meine Kolleginnen Regine Vilsmeier, Anne Bauhof und ich) hatten das große Glück, im Privathaus von Mami Nanette (die Gründerin der Schule, in der wir unsere „Praxis“ eingerichtet haben), untergebracht und von ihr täglich exzellent bekocht zu werden. Wir hatten ein eigenes Schlafzimmer und eigenes Bad (durch einen Vorhang getrennt und teilweise noch im Rohbau) mit Blick aufs Meer. Der abendliche Stromausfall war fast die Regel, und unsere tröpfelnde Dusche mussten wir die Hälfte der Zeit durch Eimer und Schüssel ersetzen, was aber unserer guten Laune nichts anhaben konnte. Denn wir wurden liebevoll betreut, und alle haben versucht, uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.

Die Schule Bon Berger liegt direkt am Atlantik. Hier werden mittlerweile 500 Schüler auf engstem Raum unterrichtet.

Als „Praxis“ diente uns ein Klassenzimmer im ersten Stock. Es wurde bestückt mit zwei Schulstühlen rechts und links der mobilen Behandlungseinheit für die konservierende Behandlung (Ein großes Lob für die „Solus“, die, bis auf die Absaugung, mehr leistet als etablierte stationäre Einheiten, denn es können bequem zwei Behandler gleichzeitig damit arbeiten. Sie ist äußerst effektiv und hat uns beste Dienste geleistet.) und vier weiteren Stühlen für Extraktionen. Dazwischen war jeweils Platz für einen Wassereimer, in den von beiden Seiten gespuckt und extrahierte Zähne geworfen wurden. Ein langes Bord diente als Ablage für die Instrumente und Schüsseln mit Wasser und Desinfektionslösung.

Es fanden noch etliche weitere Stühle für Wartenden Platz, so dass manchmal 20 Patienten gleichzeitig im Raum waren. Sie haben sich angeregt unterhalten und viel gelacht.

Wir haben in den zwei Wochen unseres Aufenthaltes ca 650 Patienten behandelt, etwa 700 Extraktionen gemacht incl. einiger Aufklappungen und Wurzeltrennungen und ca 200 Füllungen. Leider waren unsere Kapazitäten damit erschöpft. Es war frustrierend, so viele kariöse Zähne angesichts der notwendigen Extraktionen unbehandelt zu lassen mit der traurigen Gewissheit, diese bei einem möglichen nächsten Einsatz auch ziehen zu müssen.

Trotz unserer bescheidenen hygienischen Möglichkeiten kamen insgesamt nur 4 Patienten mit dolor post zurück. Nach Maßgabe unseres hiesigen „Qualitätsmanagements“ hätten wir wohl keinen einzigen Zahn ziehen dürfen!

Die Mehrzahl unserer Patienten war zum ersten Mal beim Zahnarzt. Ich selbst habe nur zwei gefüllte Zähne gesehen, dafür unzählige belassene Wurzelreste, was kein Wunder ist bei den riesigen, oft divergierenden Wurzeln in kompaktesten Knochen. Untere Backenzähne mussten wir immer wieder teilen, um sie Stück für Stück entfernen zu können.

Fehlstellungen sind dort eine große Ausnahme, auch die Weisheitszähne stellen sich meistens richtig ein. Es ist ein Jammer, wie diese von der Anlage her fantastischen Gebisse durch Cola & Co systematisch zerstört werden, und die Menschen mit den Schäden allein gelassen werden, ebenso wie mit dem anfallenden Plastikmüll.

Einen Sonntag Nachmittag haben wir dazu genutzt, einer Gruppe von Lehrern einen kleinen Vortrag über Ernährung, Mundhygiene, Zahnaufbau und Karies zu halten, in der Hoffnung, dass diese das an Eltern und Schüler weitergeben. Sie waren ausgesprochen interessiert und haben viele Fragen gestellt.

Entgegen unseren ursprünglichen Befürchtungen und Ängsten lief unser Einsatz gänzlich unproblematisch. Wir wurden immer wieder mit Dank überschüttet. Auch haben wir eine einschneidende Erfahrung gemacht, die unsere Maßstäbe und Ansprüche gehörig zurechtrückt.