Nachdem ich 2024 zum ersten Mal nach vielen Abwägungen bewusst mit meinem jährlichen Einsatz ausgesetzt hatte, entschied ich mich dieses Jahr »endlich« wieder nach Bolivien zu fliegen.
Ich schloss mich meinem ersten, von mir zusammengestellten Team 1 /2025 an, welches sich aus Amelie und Olivia von der Uni Jena und Sara und Eva von der Uni Dresden zusammensetzte. Alle vier hatten gerade Ihr Staatsexamen nach monatelangen Prüfungen mit Erfolg bestanden. Um uns kennenzulernen hatten wir uns zuvor mit WhatsApp- Video- Chats zusammengeschaltet. Die Vier schienen nicht unglücklich zu sein, dass ich als » berufserfahrene Alte« zur Unterstützung mitreiste. Und ich freute mich unendlich, mein Bolivien dann zum 13. mal wieder besuchen und alte Weggefährten und Mitorganisatoren jenseits des großen Teiches wieder antreffen zu können.
Auch wenn es meine 13. Reise nach Bolivien war, war ich wieder vor der Abreise sehr aufgeregt. Werde ich als »etwas in die Jahre gekommene Alte« alles gut überstehen, bleibe ich gesund und bewältige ich die lange und anstrengende Reise? Doch wenn einmal der Koffer gepackt ist und sein maximal erlaubtes Gewicht von 23 Kg nicht überschritten ist, wenn alle Tickets und Unterlagen wohl verstaut und sicherheitshalber kopiert sind, dann nimmt die Abenteuerlust und Vorfreude doch die Überhand.
Am 2. Februar ging die große Reise los. 25 Stunden später konnte ich mich endlich in Santa Cruz von den Winterkleidern befreien und mich in luftige Sommer-Garderobe hüllen.
Zum »Bienvenido« verbrachte ich den ersten Abend genussvoll mit Familie Steiner und Nacira in einem schicken brasilianischen Restaurant. Nacira, die rechte Hand von Max, ist unsere beste Organisationsfee, stets fröhlich und gut gelaunt. So waren wir als Zahnärzteteam hervorragend in der Plataforma Solidaria angekündigt .
Gerade erst waren in Bolivien die großen Weihnachtsferien ( sie entsprechen unseren Sommerferien) in den Schulen zu Ende gegangen. In der Plataforma war noch kein Betrieb, aber dank Nacira warteten schon am ersten Tag viele Patienten auf unseren Behandlungsstart.
In Bolivien streikt man gerne. Zurzeit ächzt das Land unter großer Inflation, ohne Devisenreserven. Alle sozialen Programme leiden enorm. Kurz, es herrscht Chaos und die Bolivianer lieben als Streikmittel Straßenblockaden einzurichten. So wurden auch wir oft schmerzlich auf dem Weg von unseren Unterkünften in das Barrio los Lotes mit der Plataforma Solidaria durch » bloqueos« ( Straßenblockaden) ausgebremst. Doch auch als Chauffeurin erwies Nacira größte Einsatzbereitschaft und Erfindungsgeist. Schwungvoll lenkte sie uns kurze Strecken über Einbahn-Schnellstraßen und geheime holprige Wege auf die andere Seite der LKW- Blockaden. So konnten wir fast jeden Tag nach aufregender Fahrt im Consultorio behandeln.
Mein junges Team arbeitete fleißig . Nur selten musste ich bei einer schwierigen Extraktion hilfreich eingreifen. Besonders viel Mühe gaben sie sich mit der Aufklärung in der Zahnhygiene. Sie konnten es gar nicht fassen, wie ungepflegt und mit dicken Belägen belegt die Zähne teilweise waren und hofften durch Ihren Einsatz eine Motivation zum regelmäßigen Zähneputzen bei den Kindern zu erwecken. Auch ich wünschte, unsere vielen Bemühungen würden endlich nachhaltig auf fruchtbaren Boden fallen. Doch leider ist noch nicht viel Licht am Horizont zu sehen. Cola und Süßigkeiten sind und bleiben vorerst die bolivianische Lieblingsnahrung.
Mein Highlight in Santa Cruz: Ariana ( 10 ) und fast ihre ganze Familie kamen in die Plataforma, um sich mir persönlich vorzustellen. Ariana ist das kleine Mädchen, welches 2023 durch eine meiner Freiwilligen mit einer schlecht operierten Lippenspalte und Wolfsrachen » entdeckt« und mit der deutschen Cleft Kinderhilfe e.V./ Freiburg www.spaltkinder.org in Verbindung gebracht wurde. Jetzt hat sie bereits zwei Korrektur- OPs von einem bolivianischen Paten- Chirurgen des Hilfswerks in Tarija hinter sich. Sie ist glücklich, strahlend, offen und so dankbar. Immer und immer wieder umarmte sie mich. Auch ich bin begeistert, welche Verbesserung die beiden OPs bereits gebracht haben. Noch in den nächsten Monaten werden weitere Korrektur-OPs folgen. Mit ansehen zu dürfen, wie Ariana sichtbar geholfen wird, wie glücklich sie wirkt, erfüllt auch mich mit angenehmer Zufriedenheit.
Nach 10 Tagen arbeitsintensivem Aufenthalt im heißen Santa Cruz, mit fast immer über 30 °, ging unsere Reise weiter nach Sucre. Die jungen Zahnärztinnen waren stolz, dass sie schon in Santa Cruz 100 Patienten versorgt hatten.
In Sucre auf 2700m konnten wir uns etwas von der großen Hitze in Santa Cruz erholen und mit den 2 Übernachtungen uns langsam an die Höhe akklimatisieren. Früh am 14.Februar ging die Reise weiter ins hohe Altiplano. Wir bestiegen ein Flugzeug nach La Paz, das leider nur mit unnötigem Umweg via Cochabamba, flog. In den fast 4000m Höhe wurde es erwartungsmäßig kalt und buchstäblich »atemberaubend«. Zudem regnete es viel.
So beeindruckend La Paz mit seiner spektakulären Landschaft ist, tief in das Tal eingebettet, mit Häusern, die sich die steilen Berghänge hinaufziehen, mit seinem größten städtischen Seilbahnsystem und seinen farbenfrohen Märkten ( z.B. dem bekannten Hexenmarkt), bin ich nie gerne in dieser Stadt. Es ist mir zu laut und hektisch, die Straßen ewig durch Autos zu verstopft und es ist mir zu kalt ( vor allem nachts). Wir blieben nur eine Nacht, kauften Materialien für die Praxis ein und mit Bus und Fähre kamen wir am nächsten Nachmittag in Challa ( 3800m) auf »meiner« Insel an.
Zwar ist es auch hier kalt, aber mich beeindruckt immer wieder die einzigartige Natur, der tiefblaue See, die große Stille und der atemberaubende Blick auf die umliegenden schneebedeckten Gipfel der über 6000m hohen Cordillera Real . Schon am ersten Tag starteten wir in der benachbarten Schule (180 Schüler) unsere jährliche Aufklärungskampagne über die Zahngesundheit. Wir zogen von Klasse zu Klasse und erklärten, wie Karies entsteht, wie man mit weniger zuckerhaltiger Nahrung und ordentlicher Mundhygiene seine Zähne gesund erhalten könnte. Mit der Unterstufe wurde eifrig am einzigen Wasserhahn vor der Schule geputzt und geschruppt. Die Begeisterung war groß! Nelson, unser fleißiger Hostal-Wirt, begleitet uns jedes Mal, schleppt die schweren Kartons mit Zahnpasta und Zahnbürsten und übersetzt gelegentlich meine spanischen Ausführungen ins Aymara ( für die Kleinsten der Primaria).
Diese Prävention- Unterrichtsstunden macht er nun mit mir zusammen schon das 10. Mal. Man müsste meinen, so engagiert und inzwischen allwissend über die Entstehung der Karies, dass seine kleinen Kinder kariesfreie Zähne haben müssten. Aber leider ist das nicht der Fall. Selbst bei der 5- jährigen Tochter blitzen uns bei ihrem Lächeln die typisch bolivianischen kariös- an geknusperten Milchzähne entgegen. Süßigkeiten gelten hier nach wie vor als Ausdruck von Fürsorge und Belohnung . Und leider sind alle Getränke stark gesüßt. Wir haben noch viel zu tun, aber können auch schon kleine einzelne Erfolge realisieren.
Wohlwissend, dass es so schlecht um die Zahngesundheit in Bolivien steht, habe ich im Vorfeld in Deutschland erfolgreich versucht SDF, Silberdiaminfluorid, als Spende zu erhalten. Mit SDF kann man die Karies ohne Bohren, nur mit Aufpinseln zum Stoppen bringen. Das ist vor allem bei kleinen Kindern die Methode der Wahl. Die kariösen Stellen der Zähne werden zwar hinterher schwarz, aber wenigstens kann die Karies nicht fortschreiten. Und da schon unsere jüngsten, oft schon 2–3-jährigen bolivianischen Kinder fast nur kariöse Ruinen, statt Milchzähne vorweisen, konventionelle Füllungen nicht mehr möglich sind ( zu stark zerstört) und sonst nur Extraktionen als Alternative zur Wahl stehen würden, haben wir gerne das großzügig gespendet SDF benutzt. Aber eine zufriedenstellende Behandlung ist das leider nicht.
Doch insgesamt konnten die jungen Zahnärztinnen etwa 15 Patienten pro Tag versorgen, etliche Füllungen legen oder viele Zähne extrahieren. Ich musste kaum noch hilfreich einspringen, sie wurden zusehends routinierter und sicherer. Und so hatte ich es mir erhofft und schon im Vorfeld zuhause geplant, dass ich das Team in Challa eine Woche früher verlassen würde.
Ich hatte einen Flug nach Bogota/ Colombia gebucht, um meinen ehemaligen Gastschüler Juan David und seine Familie nach Jahren wieder zu besuchen. Über La Paz und Cusco erreichte ich spätabends Bogota, wo ich freudig von Juan David empfangen wurde. Und ich war glücklich, dass ich wieder in einer behaglicheren Zivilisation angekommen war, dass ich unter einem großen Duschstrahl so lange duschen konnte, wie ich wollte und dass ich wieder eine » richtige« Wohnung bewohnen durfte.
10 Tage wurde ich in Bogota » verwöhnt«, konnte Elisas ( 3 Jahre) deutschen Kindergarten kennenlernen und das fast perfekte Deutsch von Gregorio bewundern. Er ist erst 7 und geht auf die deutsche Schule. Sein Lieblingsfach ist Deutsch und er spricht schon wirklich supergut! Juan und Angelica haben mir nach allen Regeln der Kunst das Leben versüßt und so fiel mir der Abschied sehr schwer.
Fazit meines Einsatzes: Es war wie immer abenteuerlich, es war sehr heiß und schwül in Santa Cruz, dagegen war es in Challa sehr nass, kalt und spartanisch. Aber all das hatte ich mit meiner langjährigen Erfahrung nicht anders erwartet. Darauf war ich eingestellt. Letztendlich war es abermals großartig und spannend.
Der armen Bevölkerung mit ihren zerstörten Zähnen, die ihnen so viel Leid und starke Schmerzen bereiten und die sich finanziell keinen Zahnarztbesuch leisten können, diesen Menschen helfen zu können, erfüllt meine Zahnarztseele sehr! Mit großer Demut weiß ich mein luxuriöses Leben hier zu schätzen. Die grenzenlose Dankbarkeit der Patienten, ihre große Geduld bei langen Wartezeiten, ihre Freundlichkeit und Anerkennung unserer Hilfe, das alles ist ein schönes Geschenk und aller Mühen wert!
Es war schön all meine vielen Mitorganisatoren in Bolivien wieder angetroffen zu haben, die meine Projekte vor Ort so zuverlässig betreuen. Dank gilt meinem lieben Max und Marta, Nacira , Arturo, Victor, Paula und Nelson mit Sol und den 3 Kindern! Alles war bestens organisiert. Ich hoffe, ich werde nächstes Jahr wieder den Koffer für » mein« Bolivien packen können.
In Dankbarkeit
Annette