Dr. Annette Schoof-Hosemann
Im August 2017 startete ich bereits zum achten Mal zu meinem inzwischen routinemäßigem zahnmedizinischen Einsatz nach Bolivien. Begleitet wurde ich dieses Mal von den drei Studenten Tobias Kleinert, Alexandra Krumb und Stephanie Kokoschka, alle drei Zahnmediziner der Universität Gießen. Seit 2013 unterhalten wir, Dentists-and-Friends, in Kooperation mit der Stiftung Hostelling International auf der Sonneninsel im Titicacasee eine kleine gut ausgestattete Zahnarztpraxis.
Drei bis vier Teams werden jährlich dorthin entsendet, um kostenlos die Zähne der indigenen Bevölkerung zu behandeln. Aber dieses Jahr begannen wir zum ersten Mal unseren Einsatz in der Millionenmetropole Santa Cruz de la Sierra. Hier, in Santa Cruz, war dank finanzieller Unterstützung des Vereines D&F eine winzige, fensterlose und bis dahin nicht mehr funktionierende alte zahnmedizinische Einheit in einem sozialem Kinderzentrum, der plataforma solidaria, frisch renoviert worden. Fünf Jahre lang war diese Einheit nicht mehr benutzbar gewesen und hatte im Dornröschenschlaf vor sich hingedämmert. Nun sollten wir sie einweihen.
Man hatte kräftig für uns Reklame gemacht, sodass die Patienten schon Schlange standen, als wir das erste Mal zur Gratis-Behandlung eintrafen. Das soziale Zentrum, von einem Spanier 2008 gegründet und heute noch von ihm selbst geleitet, befindet sich in einem der ärmsten Stadtviertel von Santa Cruz, in Los Lotes.
Ziel des Projektes dort ist, das Leben der Kinder und Jugendlichen, die meist aus sehr schwierigen familiären Verhältnissen stammen, zu verbessern und ihnen eine Chance auf eine gute Zukunft zu geben. Hier bekommen die Kinder täglich nach der Schule ein warmes Mittagessen (oft die einzige »vernünftige« Mahlzeit am Tag), Hausaufgabenbetreuung und sie können an sportlichen oder musischen Aktivitäten teilnehmen. Angeschlossen ist auch ein Kindergarten für die ganz Kleinen und für die Eltern werden verschiedene soziale Angebote, wie zum Beispiel kostenlose Augen- Kontrollen, Kochkurse und Gesundheitsaufklärungen angeboten. Die Einrichtung der zahnmedizinischen Einheit entspricht nicht ganz unseren gewohnten deutschen Standards, aber ein Arbeiten war mit etwas Improvisationstalent schon ganz gut möglich.
Sehr von Vorteil bei all der Enge und dem enormen Patientenansturm war das Vorhandensein einer Klimaanlage, denn Santa Cruz de la Sierra liegt im tropischen Teil Boliviens.
Meine drei Studenten waren schockiert über die desolaten Gebisszustände unserer Patienten, für mich aber, beim achten Mal in Bolivien, eher ein gewohnter Anblick. Ich kündigte ihnen an, dass wir oben auf der Sonneninsel noch viel, viel schlimmere Zahnruinen vorfinden würden.
In Santa Cruz ist es ja immerhin leicht möglich, sich eine Zahnbürste zu kaufen, auf der Insel dagegen ist es schon ein Kraftakt. Zahnbürsten gibt es dort nur auf dem Festland und eine Überfahrt dauert 2 bis 3 Stunden. Da kostet es schon Überwindung sich Zeit zu nehmen und obendrein auch noch Geld für solch ein »überflüssiges« Putzinstrument auszugeben.
Eine Woche arbeiteten wir in Santa Cruz im Akkord und stolz zählten die Studenten unsere Behandlungserfolge. Bei 88 Patienten wurden 35 Zähne gezogen und 75 Füllungen gelegt.
VOCO unterstützte großzügig diesen Hilfseinsatz mit der Spende diverser Dental- und Füllungsmaterialien.
Nach diesem schweißtreibenden, aber erfolgreichem Einsatz in Santa Cruz, ging es für uns dann hoch hinauf ins Altiplano, in fast 4000m Höhe.
In La Paz, auf der Durchreise zum Titicacasee, kauften wir für unsere Praxis in Challa fehlende zahnmedizinische Gebrauchsgegenstände, wie zum Beispiel Handschuhe, Mundschutz, Desinfektionsmittel, Schmerzmittel und Antibiotika ein.
Und natürlich durfte der Einkauf von Zahnputzutensilien für unsere Mundhygieneinstruktionen in den Schulen nicht fehlen.
Insgesamt erstanden wir 500 Zahnbürsten und Zahnpasten für die auf der Insel zu betreuenden Schüler.
Nach dem Einkauf ging es dann, nun mit schwerem Gepäck, mit dem Überlandbus etwa 140 km zum Titicacasee (Dauer= 4-5 Stunden) und weiter mit dem Fährboot hinüber auf die Sonneninsel, zur winzigen Gemeinde Challa.
Die isla del sol im Titicacasee mit seinem rauen Gebirgsklima, der wahnsinnigen Abgeschiedenheit und Ruhe stellt einen riesigen Kontrast zu Santa Cruz dar. Während in Santa Cruz bei tropische Hitze heftige, laute Betriebsamkeit einer typischen Millionen- Metropole vorherrscht, kann man sich auf der Insel von dem Anblick der spektakulären Naturschönheiten mit dem bis zu 6000m hohen, schneebedeckten Cordillera Real im Hintergrund, kaum lösen.
Allerdings ist es hier durch die exponierte Höhenlage(3800m) mit Einbruch der Dämmerung auch im Sommer empfindlich kalt. Auch die indigenen Stämme sind grundverschieden. In Santa Cruz leben überwiegend Guarani, während auf der Insel die stillen, wortkargen Aymara Zuhause sind. Auf der Insel haben wir wieder vormittags in zwei der drei Schulen, in Challa und im noch höher gelegenen Yumani die mehr als 500 Schüler über die notwendige tägliche Mundhygiene unterrichtet. Wie jedes Jahr haben wir in jeder Schulklasse versucht die Ursachen der Entstehung einer Karies zu erklären, die Zahnbürsten verteilt, gemeinsam Zähne geputzt und anschließend mit Voco Fluoridin N5 fluoriert. Allerdings musste man lange suchen, um einen halbwegs noch gesunden Zahn vor zu finden.
Da ich seit 2013 regelmäßig einmal pro Jahr diese Schulen aufsuche, haben die Schüler der Schulen nun schon zum fünften Mal unsere Präventions- Maßnahmen genießen können. Die Wiedersehensfreude mit der »Doctora« ist immer riesig und die Zahnputzmaterialien werden uns schier aus den Händen gerissen. Aber die Zähne sind leider immer noch nach wie vor in erbarmungswürdigem Zustand.
Es gibt kaum ein kreisfreies Gebiss, dagegen aber viele Kinder und Jugendliche, die keinen einzigen gesunden Zahn vorweisen können. Für die mitgereisten Studenten ist dieser Anblick von fast nur kaputten Zähnen immer ein regelrechter Schock!
Dass desolate, total zerstörte Gebisse hier eher der Normalzustand bei den Jugendlichen ist, ist für sie eine erschreckende und sehr prägende Erkenntnis. Aber allmählich, nach meinen 5 Jahren Präventions- Bemühungen in den dortigen Schulen, sieht man doch kleine Fortschritte, die sich vor allem im Interesse, sich die Zähne untersuchen und reinigen zu lassen, zeigten. So wurden wir nachmittags in der Praxis von den Schulkindern regelrecht überrannt.
Eigentlich wollten aber alle sich nur eine wohltuende »limpieza« (= Zahnreinigung) von uns angedeihen lassen. Damit wir aber zu den dringend notwendigen Behandlungen (allzu oft sind leider nur noch Extraktionen möglich) Zugang fanden, haben wir uns eine »List« ausgedacht. Man konnte für jede Behandlung Smileys sammeln. Bei drei Smileys gab es dann ein Geschenk aus der Belohnungsbox. Natürlich gab es in unserem Angebot nur bei einer einzelnen limpieza eine Smiley -Belohnung. Die Aussicht auf ein Geschenk aus der Überraschungs-Box führte zu Massenandrang bei den Kindern.
So konnten wir auch auf der Insel am Ende unseres Einsatzes stolz verzeichnen, dass wir auch hier wieder 88 Patienten mit Füllungen und Extraktionen erfolgreich versorgt und nicht nur die gewünschten Reinigungen vorgenommen hatten. Fazit:
- Die Wiedersehensfreude der indigenen Einwohner auf der Insel ist enorm. Man akzeptiert uns als Partner und herzlich willkommene Hilfe.
- Liebevoll werde ich auf der Insel: la Doctorita (= Dökterchen) genannt.
- Bei all der mühsamen Arbeit ist der große der Dank der Patienten ein unbeschreibliches Geschenk und Lohn für alle widrigen Umstände.
- Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich hoffe, dass langsam auch die Jugendlichen in Bolivien zur Kenntnis nehmen, dass ihre Zahngesundheit in ihren eigenen Händen liegt.